
Stell dir Folgendes vor...
Bei deinem Pferd steht ein Termin zur Blutentnahme an. Der Tierarzt trifft bei euch ein. Du holst dein Pferd von der Koppel und bereitest das Setting für die anstehende Behandlung vor. Dein Vierbeiner ist entspannt und hält still, während der Tierarzt die Blutentnahme durchführt. Nach 10 Minuten verabschiedet sich der Veterinär bei euch - alle sind entspannt und gut gelaunt.

die häufige Realität
Leider sieht die Realität in vielen Ställen oft anders aus.
Pferde, die in Panik geraten, wenn der Tierarzt kommt, Wurmkuren gegeben werden sollen oder Hufbehandlungen anstehen, sind häufig an der Tagesordnung. Oft bleibt nur noch der Einsatz von Zwangsmaßnahmen, um das Schwergewicht "Pferd" behandeln zu können, was einer perspektivischen Besserung der Gesamtsituation natürlich nicht zuträglich ist.
Tierärzte schwitzen, Pferdehalter bangen um ihr Pferd und müssen hilflos zusehen, wie der geliebte Vierbeiner mittels Nasenbremse geknebelt wird, um die Kanüle in die Vene zu bekommen. Pferde wehren sich mit allem was sie haben gegen Zwangsmaßnahmen, Behandlungen und Menschenhände.
An ein entspanntes oder gar kooperierendes Pferd ist bei solchen zuhauf zu beobachtenden Szenen nicht zu denken.
Wie sieht die Lösung für dieses Dilemma aus? Gibt es für diese festgefahrenen Abläufe überhaupt eine Lösung?
die Lösung - so einfach wie genial
... ein sinnvolles Medical Training macht es möglich, dass Pferde entspannt und kooperativ auf notwendige Behandlungen reagieren und eventuelle Ängste oder Abwehrverhalten minimiert werden. Behandlungen können stressfrei für den Tierarzt, das Pferd und den Pferdemenschen durchgeführt werden. Damit sinkt das Verletzungsrisiko aller Beteiligten enorm, es besteht eine bessere Diagnostik- und somit eine verbesserte Therapiemöglichkeit fürs Pferd. Medikamente können zielorientiert verabreicht und alle nötigen Behandlungen durchgeführt werden ohne abwägen zu müssen, ob Behandlung xy mit jenem Pferd überhaupt gehandelt werden kann, oder man es aufs Nötigste beschränken muss.

Was steckt dahinter?
Ein sinnvolles Tierarzttraining räumt dem Pferd mittels Kooperationsverhalten ein aktives Mitspracherecht ein. Dadurch ist es dem Pferd möglich, die komplette Kontrolle über das Training zu behalten. Diese damit einhergehende Selbstwirksamkeit ist von unschätzbarem Wert für den Erfolg des Trainings, denn wer sich gehört fühlt, kooperiert gern und zuverlässig.
Kooperationsverhalten
Ein Kooperationsverhalten ist ein vorher definiertes und trainiertes Verhalten, welches das Pferd vor jedem neuen Trainingsdurchgang freiwillig und ohne Signal einnimmt. Kooperationsverhalten können also an sich alle Verhalten sein, die ein Pferd aktiv zeigen kann.
Es gibt jedoch Verhalten, die sich besser und schlechter als Kooperationsverhalten eignen. (Mehr dazu im nächsten Abschnitt)
Durch das Zeigen des Kooperationsverhaltens (KV) wissen wir als Pferdemensch, dass unser nächster Trainingsschritt starten kann. Zeigt das Pferd also kein KV, kann unser Trainingsschritt nicht starten und wir müssen unser Training (-setting) überdenken und anpassen. Ziel sollte immer sein, dass das Pferd so selten wie möglich NEIN sagt, indem es das KV nicht einnimmt oder frühzeitig verlässt. Das erreichen wir, indem wir unsere Trainingsschritte immer nur so anspruchsvoll gestalten, dass das Pferd noch im Spiel bleibt.
die Zeit zwischen der Belohnung und dem erneut gezeigten Kooperationsverhalten
... enthält Informationen für unser Training von unschätzbarem Wert. So können wir über die Zeit die vergeht, bis das Pferd nach dem Füttern eines Trainingsdurchgangs, erneut das Kooperationsverhalten einnimmt, Aussagen treffen zu:
- Wie schwer war mein letzter Trainingsdurchgang fürs Pferd?
- Hat die Belohnung in Quantität und Wertigkeit zum Trainingsschritt gepasst?
- Wie kann das Trainingssetting hinsichtlich Ablenkung und Wohlgefühl des Pferdes eingeschätzt werden?
Im Idealfall nimmt das Pferd direkt nach dem Füttern erneut das Kooperationsverhalten ein. Ist dem nicht so, muss unbedingt das Trainings überdacht und angepasst werden.
So könnte ein Trainingsdurchlauf aussehen
Als Kooperationsverhalten legen wir zum Beispiel das mittige Ablegen des Kopfes auf einem Polster fest. Dieses Verhalten trainieren wir mit dem Pferd zunächst so lange, bis das Pferd dieses Verhalten ohne ein weiteres Signal des Menschen einnimmt. Das Tier lernt also, dass es sich lohnt den Kopf auf das Polster zu legen, wenn der Mensch mit Futtertasche daneben steht.
Wird dieses Verhalten also zuverlässig im beschriebenen Kontext gezeigt, kann das Tierarzttraining beginnen.
Wir legen zunächst fest, welche Behandlung trainiert werden soll. Zum Beispiel: Blut entnehmen.
Diese Behandlung zerlegen wir nun in ihre einzelnen Bestandteile - jeder Bestandteil muss folgend mit dem Pferd trainiert werden.
Eine sinnvolle Splittung der Behandlung könnte also so aussehen:
- Mensch tritt seitlich ans Pferd
- Desinfizieren (3 Pumpstöße)
- Abstreichen der Stelle mit einem Tupfer
- Greifen der Drosselrinne und Stauen der Vene
- Ansetzen der Nadel
- Schmerzreiz
- Abdrücken mit einem Tupfer und entfernen der Nadel
Jeder einzelne Schritt muss nun noch einmal in viele kleine Teile zerlegt werden, um gezielt trainieren zu können.
So könnte ein konkreter Trainingsschritt zum Beispiel aussehen:
- Mensch berührt die Drosselrinne im 2. Drittel für 2 Sekunden mit dem Zeigefinger und einem Druck, als würde man auf eine reife Tomate drücken, ohne sie zum Platzen zu bringen
Je exakter man weiß, was man gerade trainieren möchte, desto besser kommt man im Training voran, weil man genau weiß, welche Sequenz nicht funktioniert und noch geübt werden muss. An unserem Beispiel könnte ein Drücken von 2 Sekunden noch zu lang für das Pferd sein, sodass hier ein Trainingsschritt gefunden werden muss, dem das Pferd noch folgen kann.
wir unterscheiden 2 Arten der Kooperation
... die Dauerkooperation und die Startbuttonkooperation.

Dauerkooperation
Das Pferd nimmt ein dauerhaft gezeigtes Verhalten ein. So kann ein Pferd zum Beispiel seinen Kopf auf einem Polster ablegen, mit 4 Hufen auf einer Matte stehen, den Unterkiefer auf die präsentierte Menschenhand drücken oder die Nase dauerhaft an ein Target kleben.
Info für den Menschen
Für den trainierenden Menschen gelten nun folgende Aussagen:
- das Pferd nimmt das Kooperationsverhalten ein = unser Trainingsdurchgang kann starten
- Pferd verlässt das Verhalten (nimmt zum Beispiel während des Trainingsdurchgangs den Kopf vom Polster) = Trainingsschritt stoppt sofort, es gibt keine Belohnung fürs Pferd - wir warten bis das KV wieder eingenommen wird
Vorteile
- Ich erhalte als trainierender Mensch eine klare Aussage darüber, ob mein Pferd im Spiel ist. Und zwar vor und während des Trainingsschrittes.
- Während des Trainingsschrittes sehe ich exakt, ob das Pferd sicher und ruhig im KV verbleibt, oder ein Verlassen des KVs droht.
- Dadurch können die geplanten Trainingsschritte exakt angepasst werden.
- Die Dauer zwischen Futter und erneutem Einnehmen des KVs liefert wichtige Infos (s.o.)
Nachteile
- Ich muss das komplette Setting im Blick haben (Ist das Pferd noch vollständig im KV?)
- Für Behandlungen hinten am Pferd benötige ich evtl. eine 2. Person, die beobachten kann, ob das Pferd das KV verlässt.
- Das Trainieren des oft aufwendigeren KVs erfordert häufig mehr Zeit vorab.

Startbuttonkooperation
Das Pferd zeigt ein Startverhalten wie zum Beispiel das Berühren eines Gegenstandes (ein Target in einer Pylone, einen Punkt an der Wand, die Schulter des Menschen, ...) oder das Senken des Kopfes.
Info für den Menschen
Für den trainierenden Menschen gelten nun folgende Aussagen:
- das Pferd zeigt das Startverhalten (z.B. stupst das Target an) = unser Trainingsdurchgang kann starten
Vorteile
- Ich erhalte als trainierender Mensch eine klare Aussage darüber, ob mein Pferd im Spiel ist und mein Trainingsschritt starten kann.
- Die Dauer zwischen Futter und erneutem Einnehmen des KVs liefert wichtige Infos (s.o.)
- KVs sind oft recht einfach und schnell zu trainieren
- Es wird meist nur wenig Equipment benötigt.
Nachteile
- Während des Trainingsschrittes sehe ich nicht exakt, wie es dem Pferd geht (ich muss mich auf das Lesen der Körpersprache verlassen und schauen, wie schnell das Pferd nach dem Füttern wieder das KV zeigt)
- Dadurch können die geplanten Trainingsschritte nicht ganz so fein angepasst werden.
Auf meinem YouTube Kanal erkläre ich dir Schritt für Schritt, wie du ein erfolgreiches Medical Training aufbaust.

Freiwilligkeit
Elementarer Bestandteil des Medical Trainings ist es, dass das Pferd das KV FREIWILLIG einnimmt. Zeigt das Pferd das KV nach einem Durchgang also nicht erneut, ist es wichtig NICHT nachzuhelfen gemäß dem Motto "Er weiß nicht was er machen soll - ich helfe mal nach!", denn das würde uns die Basis des Tierarzttrainings kaputt machen und langfristig keinen Erfolg bringen. Besteht der Verdacht, dass das Pferd tatsächlich nicht weiß, was es tun soll, ist es sinnvoller das Kooperationsverhalten noch einmal blanko ohne Tierarzttraining zu festigen.
Kurz & Knapp
Was ist Medical Training nicht?
Medical Training hilft unseren Pferden unangenehme Behandlungen entspannt und stressfrei meistern zu können. Medical Training ersetzt keine Medikation. Stark schmerzende Behandlungen sollten nach wie vor IMMER unter einer schmerzmindernden Medikation durchgeführt werden. Das Training hilft unserem Pferd die Angst und den Stress von Behandlungsabläufen zu nehmen.
Geht Medical Training immer mit Futter einher?
Ja, alles andere wäre weder effektiv noch erfolgreich. Und NEIN - Streicheln und gut zureden hilft unserem Pferd nicht maßgeblich und sollte immer nur schmückendes Beiwerk sein. Ein Pferd lässt sich nicht eine Penicillinkanüle in den Hals rammen für ein warmes Wort und Halstätscheln!
Wie lang muss ich Behandlungen üben?
So lang, bis das Pferd entspannt und freiwillig im Training bleibt und einer tatsächlichen Behandlung nichts mehr im Weg steht. Schnellschüsse sind NIEMALS erfolgreich.
Greift das Training auch bei stark traumatisierten Pferden?
Auf jeden Fall. Sieh dir dazu gern die Videos der beiden von mir trainierten Stuten auf meinem Kanal an. Beide Pferde haben sich zu Beginn des Trainings nicht einmal anfassen lassen.
Gerade traumatisierte Pferde nehmen das Medical Training oft dankend an, weil es ihnen einen Ausweg aus dem "Ausgeliefertsein" bietet.
Fazit
Medical Training ist ein effektiver Trainingsansatz, um notwendige Behandlungen unserer Pferde stressfrei und sicher durchführen zu können. In der Zoo- und Wildtierhaltung hat sich das Training bewährt und hält zunehmend Einzug in die Pferdeställe. Nicht nur für Pferdebesitzer, sondern auch für Tierärzte, Osteopathen, Hufpfleger, u.s.w. bringt Medical Training große Vorteile: weniger Stress, weniger Zeitaufwand und ein minimiertes Verletzungsrisiko. Ein medizinisch trainiertes Pferd, das entspannt mitarbeitet, öffnet einen neuen Handlungsspielraum und ermöglicht noch dazu eine genaue und erfolgreiche Behandlung – ganz ohne Zwang und Stress.
In diesem Sinne wünsche ich euch ein tolles Tierarzttraining mit euern Langohren!
Eure Nadine
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